Die Deutschen: Weltmeister der Abgrenzung
Bremen - Von Johannes Bruggaier. Ein Festival für „grenzüberschreitende Literatur“: Karsten Binder, Programmchef bei Radio Bremen, konnte sich angesichts dieser Definition eine kritische Anmerkung nicht verkneifen. Literatur, sagte er in seiner Ansprache am Montagabend, sei doch per se „grenzüberschreitend“. Wozu die unsinnige Wortdopplung?
Tatsächlich ist die Metapher der „Grenzüberschreitung“ im Kulturbetrieb längst zu einer Floskel verkommen, wahlweise verwendbar für Innovation, Integration und natürlich auch Migration. Bei der Eröffnung des Festivals „Globale“ im Bremer Institut français traf das Schlagwort zumindest bei einem Programmpunkt ins Schwarze. Schauspielerin Rena Dumont war nämlich mit ihrem Romandebüt „Paradiessucher“ (Hanser Verlag) zu Gast: ein in den achtziger Jahren angesiedelter Text über die Flucht einer jungen Tschechin in den Westen. Grenzüberschreitung ist hier in ihrer ureigensten Bedeutung zu erfahren, als gewagter Aufbruch in ein gelobtes Land. Und obgleich die autobiografisch geprägte Handlung eher eine sanftere Variante der Republikflucht offenbart (die junge Heldin und ihre Mutter können immerhin ein Visum vorlegen), gelingt es Dumont mit dezenter Ironie, die emotionale Grenzerfahrung dieses Abenteuers erahnbar werden zu lassen.
Übersteigerte Hoffnungen auf ein Leben in Freiheit und Wohlstand zerschellen an der Realität des grauen Kleinstadtalltags in Oberbayern. Was eben noch eine Glücksverheißung war, entpuppt sich bei zunehmender Gewöhnung als banales Konsumgut. „Ein Farbfernseher war großartig, solange man der einzige gewesen wäre, der ein solches Gerät besitzt“, sagt Dumont.
Temye Tesfu, deutscher Vizemeister im Poetry Slam, mag zum Thema Grenzüberschreitung nicht viel einfallen. Den Umgang mit Grenzen nimmt er in Deutschland eher als einen Prozess der ständigen Stabilisierung denn als ein Bemühen um Überschreitung wahr. Die Deutschen, findet er, seien Meister im Sich-Abgrenzen: „Deshalb gibt es hier auch keine Diskurskultur.“ Was er damit meint, verdeutlicht er in einer kleinen Performance zum Thema Rassismus. Vom Fragenkatalog einer Polizeistreife – Woher kommen Sie? Sprechen Sie Deutsch? Dürfte ich mal Ihren Ausweis sehen? – mündet der Bewusstseinsstrom in eine Reflexion über die fragwürdige Identitätsstiftung eines Papierdokuments. Tesfu verhandelt tonnenschwere Themen in federleichter Sprache, überführt das Verzweifeln an gesellschaftlichen Ressentiments in eine gelassene Weltsicht. Rassismus, sagt er, könne man niemandem vorwerfen: „Rassismus kann man nur diagnostizieren.“
So erwies sich der erste Abend von „Globale“ als glückliche Synthese aus intellektueller Substanz und lässigem Witz, aus Erlebtem und Erdachtem, Kritik und Selbstkritik. Grenzwertig war dieser Auftakt nur seinem Namen nach.
http://www.globale-literaturfestival.de